Deutscher Gottesdienst, Treffen mit dem Estnischen Präsidenten be der Beerdigung von Jaan Lattik, Mitarbeit in der Kirchengemeinde, Russen in Viljandi
Am Samstag hab ich dann den Präsidenten von Estland getroffen. Ich hab ihm nicht nur getroffen, sondern sogar die Tür aufgehalten. Das ganze kam so: Gestern wurden bei uns in Viljandi ein Mann namens Jaan Lattik und seine Frau Alice Lattik beerdigt. Jaan Lattik war Pastor, Schriftsteller und estnischer Außenminister von 1928 bis 1931 und lebt während der sowjetischen Besatzungszeit im schwedischen Exil, wo er 1967 auch starb. Sein Leichnam wurde nun nach Estland überführt. Die Zeremonie fand in der Pauluskirche statt, wo mein Mentor (der für das Jahr hier in Estland als mein zuständiger Ansprechpartner für so ziemlich alles fungiert) Pastor ist. Das ganze war ziemlich feierlich und estnisch: Studenten standen neben dem Sarg mit der Estlandfahne, Militäroffiziere, mehr als sieben Pastoren aus den umliegenden Gemeinden, Bildungsminister und eben der estnische Präsident… ich habe mich dann in die letzte Reihe gesetzt und gesehen, dass die Haupttüren zur Kirche aufgemacht wurden. Eine der Türen ist dann aber wieder zugefallen und ich hab sie dann wieder aufgemacht, woraufhin mich der eine gebeten hat, die Tür einfach weiter aufzuhalten. Und dann kam plötzlich der Präsident. Noch nicht mal zwei Monate in Estland und schon den Präsidenten gesehen… Unten sind ein paar Photos.
Ich mache jetzt übrigens auch im Konfirmandenunterricht der Pauluskirche mit, um weiter fleißig Estnisch zu lernen. Mein Mentor, der ja auch gleichzeitig mein Pastor ist, meinte, dass ich demnächst auch gerne im Gottesdienst mithelfen kann (Bibeltext vorlesen & Co.). Wenn ich möchte, kann ich bald vielleicht sogar das Abendmahl austeilen: den liturgischen Teil macht er natürlich weiterhin, ich würde dann eben das Brot und den Wein austeilen und was auf Estnisch dazu sagen. !!! Mein Pastor, er heißt übrigens Mart Salumäe, ist unglaublich gemütlich, nett, kommunikativ, humorvoll und hilfsbereit. Neulich hat er versucht, mit dem russisch-orthodoxen Priester hier in Viljandi eine Zusammenarbeit in die Wege zu leiten, aber der russisch-orthodoxe Priester wollte leider nicht. Neulich habe ich dann auch mal die russisch-orthodoxe Kirche bzw. kleine Kappelle besucht… der Raum war ziemlich düster und die Atmosphäre nicht gerade entspannt (der Priester hat mich die ganze Zeit – wie ich finde ziemlich misstrauisch – beobachtet). So schnell werde ich dort auf jeden Fall nicht mehr hingehen.
Ganz nebenbei bemerkt: Die Bevölkerung Estlands besteht zu gut einem Drittel aus Russen. Hier in Viljandi wohnen aber nur sehr wenig Russen und ich höre eigentlich auch nur Estnisch. In Tallinn und Nordostestland ist es hingegen ganz anders: dort gibt es dann auch mal Städte und Orte, die zu gut 80 / 90% von Russen bewohnt werden. Das hängt damit zusammen, dass man während der Russischen Besatzungszeit sehr viele Russen im Nordosten Estlands angesiedelt hat (das ganze nennt sich „Russifizierung“). Der Nordosten Estlands ist sehr stark von der Industrie geprägt und es wird auch heute noch dringend davon abgeraten, Wasser aus den dortigen Seen zu trinken. Eine ehemalige Freiwillige, die bereits in Narva (im Nordosten Estlands, drittgrößte Stadt von Estland) war, erzählte, dass sie in der Bäckerei nicht einmal ein Brötchen auf Estnisch bestellen konnte, weil die Bäckerin nur Russisch sprach bzw. Russisch sprechen wollte. Ich werde demnächst noch deutlich mehr darüber schreiben, weil es ja auch kein unwichtiges Thema ist: in Tallinn gab es im letzten Jahr zwischen Russen und Esten auch Straßenkrawalle mit einem Toten… aber ich glaube, ich weiß bis jetzt noch zu wenig darüber.
Jetzt aber wieder zur Überschrift zurück: letzten Sonntag waren wir beim deutschen Gottesdienst hier in Viljandi. Es waren zwar gerade einmal elf Leute da (inkl. uns drei Freiwilligen und dem noch sehr jungen Pastor), aber beim Kaffeetrinken danach wurden wir von einer Urgroßmutter eingeladen, mit ihr Weihnachten zu feiern. Zwei derjenigen, die kamen, kommen ursprünglich aus dem Rheinland, und sind nach der Wende als Landwirte hierher gekommen. Sie wissen noch nicht, ob sie für immer hier bleiben wollen, weil sie auch noch Familie in Deutschland haben. Der Schleswig-Holsteiner wiederum kann seine Familiengeschichte bis auf eine im Mittelalter sehr bekannte deutsche Familie in Estland zurückverfolgen. Zu den so genannten Deutschbalten schreibe ich im Laufe des Jahres bestimmt auch noch einmal was. Der deutsche Pastor ist nicht nur für Viljandi, sondern auch für ganz Estland zuständig und arbeitet nebenbei auch noch als Lehrer für Deutsch und Philosophie in Tallinn. Der deutsche Gottesdienst findet hier in Viljandi zwar nur einmal im Monat statt, an den anderen Sonntagen gibt es dann aber noch deutsche Gottesdienste in Tallinn oder Tartu.
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