Freitag, 20. Februar 2009
Hei! Und „Tere!“
Ich komme gerade aus dem Reisebüro und habe jetzt mein Visum für Russland! J Am 30. März geht’s für mich also für eine Woche nach Moskau und Sankt Petersburg! J
Aber erst einmal zu dem was in den letzten (fast) zwei Monaten seit meiner letzten Rundmail so alles passiert ist.
Zu aller erst: Weihnachten. Das haben wir vier deutschen Freiwilligen bei einer Frau gefeiert, die wir im deutschen Gottesdienst hier in Viljandi kennen gelernt haben und die uns zu Weihnachten zu sich eingeladen hat. Wir haben nachmittags bei ihr gegessen: ganz arg leckeren Heringssalat, Kartoffeln, Schweinefilet, Elchwurst und, und, und… Normalerweise ist man hier ja zu Weihnachten Blutwurst (von der ich ehrlich gesagt nicht der größte Fan bin). Nach dem Essen haben wir, wie es sich zu Weihnachten gehört, noch gesungen, Rummikub gespielt und natürlich Bescherung gemacht: Bin jetzt stolzer Besitzer einer grünen Thermo-Filter-Kaffeebechertasse und eines fair gehandelten Biokaffees. Ihr müsst wissen, dass ich hier in Estland angefangen habe, Kaffee zu trinken. Dass liegt zum einen daran, dass ich fünf Tage die Woche um 6.30 raus muss. Zum Zweiten daran, dass meine Kinder aus jeder Art von Müdigkeit meinerseits versuchen ihren Vorteil raus zuschlagen – und das meistens eine harte Belastungsprobe für meine Nerven bedeutet. Zum Dritten daran, dass das Koffein dem Körper bei soviel Dunkelheit wenigstens von innen heraus darauf einstellt, dass nun ein neuer Tag beginnt (im Dezember geht die Sonne hier nämlich erst nach 9 Uhr auf und kurz nach 15 Uhr wieder unter). Mittlerweile haben wir ja Mitte Februar: Die dunkle Jahreszeit ist also fast vorbei!!! J Ich hätte eigentlich gedacht, dass diese Dunkelheit arg auf die Stimmung schlägt, aber so schlimm waren die letzten Wochen gar nicht. Außerdem: wenn man (wie ich jetzt) Ende Januar, Anfang Februar merkt, dass es auf einmal hell ist, wenn man zur Arbeit geht, bekommt man schon richtig Vorfreude auf Juni / Juli. Dann geht die Sonne hier wirklich für nur ein ganz paar wenige Stunden unter. Ende Juni / Anfang Juli kommen dann auch meine Eltern – danach hat uns Ulla (eine finnische Freundin von uns in Viljandi, die hier ihren Erasmus macht) eingeladen, zu ihr nach Finnland hoch zu kommen… und da gibt’s dann noch viel mehr Sonnenstunden! J
Aber jetzt erstmal zurück zu Weihnachten: Abends sind wir in die Kirche gegangen und haben danach noch ein wenig zusammen gesessen. Ganz ehrlich: Es war ein schöner Abend. Ein besonderer Abend. Aber Weihnachten war es für mich nicht ganz. Weihnachten fühlt sich einfach anders an. Bei uns in Estland lag ja richtig Schnee, aber Weihnachten ohne Familie ist einfach nicht Weihnachten. Weihnachten ohne Familie mach ich so schnell bestimmt nicht wieder… Eins ist mir aber aufgefallen: Der Weihnachtsverkauf ist hier um einiges weniger aggressiv als in Deutschland – und beginnt auch erst im November / Dezember. Eine Sache, die hier um die Weihnachtszeit gar nicht zu übersehen ist, sind die roten Weihnachtsmannmützen die manche Esten auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule tragen. Die Schneemänner sind hier übrigens keine Schneemänner, sondern „Schneefrauen“ und auch die Weihnachtsfamilie besteht nicht nur aus dem Weihnachtsmann, sondern zudem aus einem Weihnachtsgroßvater, einer Weihnachtsfrau usw., wobei der Weihnachtsmann und der Weihnachtgroßvater natürlich die größte Bedeutung zu kommt. Der Dezember ist für die Kinder etwas ganz besonderes: Einen Nikolaus gibt es in Estland zwar nicht, dafür aber die so genannten „Päkapikkud“. Diese „Päkapikkud“ sind so eine Art „Weihnachtszwerge“, die den Kindern im Dezember immer wieder Süßigkeiten und Ähnliches in die Schuhe stecken – aber nicht jeden Tag. Adventskalender gibt es hier auch, aber die sind bei weitem nicht so beliebt, glaube ich, wie eben diese Weihnachtszwerge „Päkapikkud“. Außerdem ist dieser Weihnachtszwergbrauch meiner Meinung nach viel spannender und witziger, weil man ja nicht weiß, ob der Weihnachtszwerg die Nacht über jemandem etwas in die Schuhe gesteckt hat oder nicht.
So viele zu den Estnischen Weihnachtstraditionen. Silvester wird wie bei uns auch gefeiert. Wir haben (zum Teil mit unserem Besuch) und mehreren hunderten Bewohnern Viljandis den Jahreswechsel auf dem großen Parkplatz gefeiert. Und siehe da: Am nächsten Tag sind wir Freiwilligen auf dem Photo der Titelseite der Hauptzeitung Viljandis! J Nachts sind wir dann noch auf den zugefrorenen Viljandisee gegangen und haben Wunderkerzen angezündet… was man so alles an Silvester macht…
Was ist in den letzten Wochen dann noch alles passiert? Nun: Mitte Januar habe ich mich mit einer Frau aus Viljandi getroffen, die mir etwas über die Geschichte der Juden in Viljandi erzählt hat. Mitte Dezember war ich nämlich im Historischen Museum von Viljandi und hab versucht etwas über das Judentum in Viljandi herauszufinden. Daraufhin hat man mir die Telefonnummer dieser Frau gegeben, die selbst Jüdin ist, sich selbst jedoch als „Atheistin“ bezeichnet. Diese knapp 90-jährige Frau hat mir dann erzählt, dass es in Viljandi einmal 60 jüdische Familien gegeben hat, die jedoch fast alle von den Nazis ermordet wurden. Eine kleine Anmerkung am Rande: Die Esten waren großteils recht froh, als die Deutschen 1941 kamen, weil sie die 1940 einmarschierten Russen vertrieben. Die Deutschen gewährten den Esten viel kulturelle Autonomie – und Kultur hatte und hat hier in Estland einen ganz besonderen Stellenwert. Außerdem unterdrückten die Deutschen im Gegensatz zu den Russen nicht den Estnischen Nationalstolz und „respektierten“ zum Beispiel die Estnische Fahne. Viele Esten sehen daher die deutsche Besatzungszeit mit Sicherheit um einiges positiver als einige andere europäische Staaten, obwohl auch hier die Nazis Juden ermordet und politische Gegner verfolgt haben. Die Jüdin, mit der ich mich jetzt getroffen habe, hat diese Zeit deshalb überlebt, weil sie wenige Wochen vor dem Einmarsch der Nazis aus Viljandi weggezogen ist und nach Tallinn ging. Sie war dann jedoch nicht offiziell in Tallinn registriert bzw. bei den Behörden gemeldet und so haben die Nazis sie gar nicht erst gesucht – sie war ja quasi unbekannt. 1941 ist sie vorsichtshalber bzw. gezwungenermaßen nach Russland (Jekaterinenburg) gegangen. 1944 wurde sie von den Sowjets festgenommen – warum hab ich leider nicht genau verstanden. Sie wurde nach Magadan (ganz im Osten von Russland, fast bei Wladiwostock) gebracht und arbeitete elf Jahre als Fälscherin (das ist ein Berufsstand zwischen Krankenschwester und Arzt) in verschiedenen Lagern der Sowjets. Dass sie in den Lagern nicht die „übliche Zwangsarbeit“ verrichten musste, verdankte sie ihrem angefangenen Medizinstudium: Als die Sowjets bei ihrer Festnahme 1944 sahen, dass sie Medizin studierte, ließen sie sie in den Kolchosen als Fälscherin arbeiten. Erst 1955 kehrte sie zurück nach Viljandi, wo sie dann weiter als Fälscherin (Zwischenstufe zwischen Krankenschwester und Arzt) gearbeitet hat. Sie spricht übrigens fließend Russisch, Estnisch und Deutsch. Deutsch beherrscht sie noch aus ihrer Kindheit. Fast alle Juden Viljandis besuchten damals die deutsche Schule, die es zu dieser Zeit noch in Viljandi gab, und auch die Gebetsbücher waren zweisprachig: Hebräisch und Deutsch. Aber ich schreibe und erzähle wieder viel zu viel… also, kurz und knapp: Es war sehr, sehr interessant mit ihr zu reden! Sie hatte sich viel von der estnischen Unabhängigkeit 1990 erhofft. Nun aber denkt sie, dass man sich kaum um die jungen Familien, die Älteren, generell die benachteiligten der Gesellschaft kümmert. Es war wirklich sehr interessant zu hören, wie sie die Zeit vor den Nazis, die Zeit während der Sowjets und nun die Zeit nach den Sowjets erlebt… aber das alles aufzuschreiben sprengt den Rahmen einer Rundmail, die euch ja eigentlich nur grob erzählen sollte wie’s mir geht und was ich mache.
Also: Was mache ich sonst noch? Nun: Ich habe angefangen im Gospelchor mitzusingen und bekomme jetzt sogar Gesangsunterricht! J Ich glaub den brauch ich auch… aber na ja… das ist ja das Gute wenn man ein Jahr im Ausland ist: irgendwie trau ich mir hier ein paar mehr Sachen auszuprobieren als in Deutschland. Vorletzten Sonntag hatten wir dann vom Kirchenchor aus eine ganz große Probe mit anderen Chören aus Viljandi. Das Ganze war eine Vorprobe für das große Sängerfest „Laulupidu“ im Juli… dazu im Juli dann aber mehr. Neben dem Singen mache ich jetzt zweimal die Woche Badminton und reise natürlich sehr viel rum.
Neulich waren wir beim Ski-Langlauf-Weltcup in Otepää… und ich hatte das Gefühl halb Estland war auf den Beinen. Ganz ehrlich: So viele Esten habe ich noch nie auf einmal gesehen. Es scheinen so um die 13.000 Esten da gewesen zu sein, auch wenn ich mindestens zweimal so viele Estnische Fahnen gesehen hab. Weil es ja aber ein Skilanglauf- WELT- Cup war, kamen auch ein paar Deutsche Skilangläufer wie Evi Sachenbacher und Axel Teichmann. Neben Otepää (der Winterhauptstadt Estlands) war ich dann noch mal in Tallinn und habe eine Frau aus Viljandi (der Stadt in der ich in Estland lebe) getroffen, die während der Expo 2000 in Hannover im Estnischen Pavillon gearbeitet hat!!! J So schnell sieht man sich wieder… J Und Julia Thiemann hat in Australien ja sogar schon den Sohn meiner Chefin getroffen!!! Das muss man sich mal vorstellen: Julia Thiemann trifft in Australien einen Esten… einen Esten aus Viljandi (der Stadt in der ich lebe)… und dann noch den Sohn meiner Chefin im Lasteabi Keskus (dem Projekt in dem ich arbeite)! J
Was mich dann auch zum letzten Teil meiner Rundmail bringt: meine Arbeit. Wie ich euch bereits in der Weihnachts-Karte geschrieben habe: Ich arbeite jetzt nicht nur im Kindergarten, sondern auch in der Schule des „Lasteabi Keskus“ (Zentrum für behinderte Kinder und Jugendliche). In diesem Zentrum gibt es vier verschiedene Schulklassen, die in der Regel nach dem Grad der Behinderung zusammengestellt werden. Auf 5 Schüler kommen mindestens zwei Helfer bzw. Lehrer. Wirklicher Unterricht findet jedoch eigentlich nicht statt. In der Klasse in der ich jetzt zum Beispiel helfe, basteln wir und bringen den Kindern Farben oder Tiere bei. Eins der Kinder meiner Klasse ist sehr schwer behindert: sie ist 13 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Sie kann weder ihre Arme noch ihre Beine von sich aus bewegen und auch nicht reden. Manchmal bekommt sie so schwere Krämpfe, dass sie sich übergeben muss. Soweit es möglich ist bewegen wir ihre Beine und Arme oder singen oder lesen ihr etwas vor. Sie freut sich voll arg, wenn wir ihr mit Teddys oder irgendetwas Weichem über die Wange streicheln und mit ihr reden. Neben diesem Kind 1 habe ich vor allem mit einem zweiten Kind, einem Jungen, sehr viel zu tun, der ein absoluter Autofan ist. Immer wenn ein Auto vorbei fährt, zeigt er aufs Auto und sagt „Aut“ bzw. bei Bussen „Buff“. Neulich habe ich mit ihm einen kleinen Ausflug gemacht: zur Bushaltestelle, die 2 Minuten vom Haupteingang des Zentrums entfernt liegt. Für ihn war es aber ein richtig kleiner Tagesausflug… und er musste sich danach erst einmal schlafen legen. J Er hat sich auf jeden Fall gefreut. Außerdem habe ich mit ihm neulich ein kleines Autorennspiel gebastelt. Was mir auffällt wenn ich mit anderen über meine Arbeit rede ist, dass Außenstehende vor allem zuerst über die Behinderungen der Kinder nachdenken. Aber wenn man selbst eine Zeit lang mit den Kindern arbeitet, bemerkt man vor allem was die Kinder trotz(!) ihrer Behinderungen alles können. Das mag jetzt vielleicht ein bisschen seltsam klingen, aber wir freuen uns jedes Mal drüber, wenn zum Beispiel der Junge (13 Jahre) von dem ich grad erzählt hab, erkennt, dass das Auto „blau“ ist und nicht „grün“. Auch wenn im Kindergarten ein Kind ein Spielzeug einem anderen Kind gibt (was schon eine ganze Menge ist!), ist das ein echter Fortschritt und gerade im Kindergarten machen diese Kinder relativ große Fortschritte. Eins der Kinder hat jetzt gelernt den Teller nach dem Essen allein vom Tisch bis zum Abwaschbecken zu bringen – wenn auch ein wenig holperig, aber es ist bis jetzt gerade mal ein Teller zu Bruch gegangen! J Was man auf jeden Fall merkt ist, dass die Lehrerinnen alles daran legen, die Kinder optimal zu fördern und es macht mir irre viel Spaß mit den Kindern zu spielen oder zum hundertsiebzigsten Mal zu erklären, dass die Banane gelb und nicht blau ist. Sprich: Ich habe richtig Spaß auf meiner Arbeit… und allein die Kinder zu beobachten – wozu ich nicht allzu viel Zeit habe – lohnt sich allemal. Manchmal heißt es dann aber auch wieder Hände putzen und Bettwäsche wechseln, wenn ein Kind wieder ins Bett gemacht hat.
So… jetzt mache ich aber erst einmal Schluss. Ich denke ihr seid einigermaßen gut informiert, was ich in den letzten Wochen gemacht habe und dass es mir hier immer noch sehr, sehr gut geht, ich hier eine ganze Menge Erfahrungen sammele und immer noch sehr, sehr viel Spaß habe. Nächste Woche feiert Estland erstmal seinen Unabhängigkeitstag; dann muss an jedem Haus mindestens eine estnische Fahne hängen – so steht es zu mindest im Gesetzt. Bis dahin wird’s aber hoffentlich erstmal wärmer: Wir stecken nämlich im kältesten Monat des Jahres in Estland. Es waren zwar schon -24 Grad, aber eigentlich ist der Februar hier dieses Jahr recht warm mit -8 bis -12 Grad. Unser großer See hier in Viljandi ist auf jeden Fall zugefroren… ein paar Photos wie’s bei uns im Moment aussieht, könnt ihr ab Freitag auf meinem blog www.binbaldwiederda.blogspot.com (den ich leider sehr, sehr lange nicht mehr aktualisiert habe) anschauen.
Übrigens: Das Russlandvisum habe ich im Reisebüro auf Estnisch beantragt. Aber wir sind noch alle sehr, sehr fern davon, einen Roman oder Ähnliches auf Estnisch zu lesen. Dazu wird es wohl auch nicht mehr kommen. Trotzdem komm ich im Alltag mittlerweile ganz gut zurecht, kann mit meinen Kiddies reden und mit den Mitarbeitern quatschen…
Jetzt aber erstmal ganz liebe Grüße aus Estland, wir sehen uns ja schon in 5 ½ Monaten wieder (nächste Woche ist halbzeit!),
Fabian
P.S: Ich hatte diese Woche ein wenig Fieber (meine beiden Mitbewohner sind auch krank). Die Esten haben bei Erkältung, Fieber und Husten eine sehr eigenwillige Medizin. Neben dem Rat, sich Knoblauch in die Nase zu stecken, heißt das Allheilmittel Nummer 1: Wodka! Ein estnisches Sprichwort sagt „Kui ei ole surmatöbi, siis saab ikka viinast abi.“ Also: „Wenn es keine Todeskrankheit ist, dann bekommst du gewiss vom Wodka Hilfe.“
Und zu guter letzt: Vor kurzem hatte unsere Kirchengemeinde hier in Viljandi Besuch von sechs Diakonen aus der norwegischen Partnergemeinde. Die Diakone haben hier einen kleinen Workshop gemacht. Nach dem letzten Workshopabend sind wir dann alle (Norweger, Esten und wir) zu einer Estin aufs Land eingeladen worden… und haben wir bis in die Nacht richtig schön Sauna gemacht – inklusive anschließendem Sprung in den Schnee (der hier manchmal recht hart sein kann).